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Interkulturelle Bildung – Grundsatzerlass 2017

BMB-27.903/0024-I/4/2017
Sachbearbeiter/in:
Dr.in Muriel WARGA-FALLENBÖCK
Abteilung I/4
T +43 1 53120-2297
F +43 1 53120-812297
muriel.warga-fallenboeck@bmb.gv.at

Rundschreiben Nr. 29/2017

Verteiler: Landesschulräte, Stadtschulrat für Wien, Pädagogische Hochschulen
Sachgebiet: Pädagogische Angelegenheiten
Inhalt: Politische Bildung
Geltung: unbefristet

Pädagogische Hochschulen
Landesschulräte/Stadtschulrat für Wien

Interkulturelle Bildung beruht im österreichischen Schulsystem auf zwei Säulen:

  • Interkulturelles Lernen ist seit 1992 als Unterrichtsprinzip in den Lehrplänen aller allgemein bildenden Schulen verankert.
  • Zahlreiche Fachlehrpläne enthalten implizite und explizite Bezüge zur Interkulturellen Bildung.

Der Grundsatzerlass Interkulturelle Bildung beschreibt Inhalte und Umsetzung des Unterrichtsprinzips und versteht sich als wichtiger Beitrag zur Entwicklung professionsorientierter Kompetenzen von PädagogInnen der Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie für weitere Maßnahmen im Bereich der Interkulturellen Bildung. 

Die soziale, kulturelle und sprachliche Vielfalt in der globalisierten und individualisierten Gesellschaft führt zu einer steigenden Heterogenität von Lebensentwürfen. Diese vielfältigen Lebens- und Familienrealitäten mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen spiegeln sich auch in den Klassenzimmern wider.

Interkulturelle Bildung leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, dass österreichische Schulen ihre Aufgaben nach § 2 des Schulorganisationsgesetzes1  in vollem Umfang erfüllen können. Den internationalen Rahmen bilden u. a.:

  • die UN-Agenda 2030 (2015), die dazu aufruft, „die interkulturelle Verständigung, Toleranz, gegenseitige Achtung und ein Ethos der Weltbürgerschaft und der geteilten Verantwortung zu fördern“2  ,
  • die UN Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs), die in Ziel 4 Bildung „inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung“ als Ziel nennen3 ,
  • die UNESCO Guidelines on Intercultural Education (2006)4 sowie Intercultural Competences: Conceptual and Operational Framework5 (2013),
  • die Erklärung zur Förderung von Politischer Bildung und der gemeinsamen Werte von Freiheit, Toleranz und Nichtdiskriminierung der EU-BildungsministerInnen (2015)6, die mehrfach auf die Verbindung von Politischer Bildung und interkulturellen Kompetenzen hinweist, 
  • die Europarats-Charta zur Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung (2010)7 , die den interkulturellen Dialog und die Wertschätzung von Vielfalt als wichtige Bildungsanliegen anspricht.

Begriffsdefinition

Qualitätsvolle Interkulturelle Bildung orientiert sich am wissenschaftlichen Diskurs und nimmt aktuelle didaktische und schulpädagogische Erkenntnisse auf. Der Begriff der Interkulturellen Bildung hat sich im deutschsprachigen Raum als der am häufigsten gebrauchte etabliert und findet deshalb im Grundsatzerlass Anwendung. Interkulturelle Bildung ist kein abgeschlossenes Konzept, weil ihr Betrachtungsgegenstand und Referenzpunkt – die migrations- und mobilitäts-geprägte multikulturelle Gesellschaft – sich stetig verändert. Insofern ist in diesem Dokument der Begriff Interkulturelle Bildung als Rahmenbegriff für die aktuellen und zukünftigen Debatten um Inter-, Trans- und Multikulturalität zu sehen und umfasst eine Vielfalt an pädagogischen und methodischen Zugängen. Interkulturelle Bildung findet im Wissen um multiple, veränderbare Zugehörigkeiten und Identitäten statt. 

Interkulturelle Bildung geht von einem offenen und vielfältigen Kulturbegriff aus. Kulturen prägen die Identität des Einzelnen wie der Gruppe:

  • die Kulturen der Gesellschaft, in der wir aktuell leben,
  • die Kulturen der Gruppen, in denen wir uns bewegen, 
  • (kulturelle) Praktiken, die sich aus unserem sozialen Status, unserer sprachlichen, weltanschaulichen, religiösen Verankerung sowie alters- und milieubedingten Interessen ergeben etc. 

Interkulturelle Bildung steht in enger Wechselwirkung mit weiteren Unterrichtsprinzipien, etwa Politische Bildung und Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern, sowie mit  Bildungsanliegen, etwa Menschenrechtsbildung, Soziales Lernen, Globales Lernen und kulturelle Bildung. Sie ist fächerübergreifend und fächerverbindend.

Interkulturelle Bildung lenkt den Blick der Lehrenden und Lernenden auf (historische und aktuelle) gesellschaftliche Veränderungsprozesse, wie etwa Migrationsbewegungen aus dem globalen Süden nach Europa, Abwanderungsprozesse in ländlichen Regionen und Bevölkerungszunahme im städtischen Raum, vielfältige Biografien und Lebensentwürfe, intergenerationale und soziale Aspekte. Gleichzeitig reagiert sie pädagogisch angemessen auf die Herausforderungen und Chancen, die sich daraus im System Schule ergeben.

Ziele und didaktische Grundsätze

Interkulturelle Bildung ist holistisch und nimmt das gesamte System Schule in den Blick. Sie leistet Beiträge im Rahmen der Schulentwicklung (Standort-, Personal- und Unterrichtsentwicklung), trägt zu einer kooperativen Schulkultur bei und unterstützt alle AkteurInnen im Rahmen der Schulpartnerschaft.

Interkulturelle Bildung ist eine Haltung, die am Schulstandort von allen gemeinsam gelebt werden muss, um wirksam zu werden. Sie ist ein wichtiger Beitrag zu einem von Zusammenhalt und Solidarität getragenen Schulklima und trägt zu einer wertschätzenden und respektvollen Lernatmosphäre bei. Darüber hinaus vermittelt sie im Unterricht interkulturelles Wissen und fördert die interkulturellen Analyse-, Methoden- und Handlungskompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Interkulturelles Bewusstsein ist Grundvoraussetzung dafür, dass im schulischen Alltag und in jeder Unterrichtssituation das gemeinsame Lernen gelingen kann.

Interkulturelle Bildung richtet sich an alle Lehrenden und Lernenden. Sie befähigt – unabhängig von Herkunft, sozialem Status, Alter, Geschlecht etc. – zum Umgang mit Vielfalt in einer multikulturellen Gesellschaft. Sie ist ein Beitrag gegen Ausgrenzungsmechanismen und stellt der Haltung „Wir und die Anderen“ („Othering“) die Befähigung zum Umgang in und mit heterogenen Gruppen gegenüber.

Interkulturelle Bildung ist den Menschenrechten, im Speziellen den Kinder- und Jugendrechten, sowie den Prinzipien der Menschenwürde und der Gleichheit aller Menschen verpflichtet. Sie ist global ausgerichtet und trägt dazu bei, eurozentrische oder andere ethnozentrische Sichtweisen zu erkennen, zu hinterfragen und durch Perspektivenvielfalt zu ergänzen. Interkulturelle Bildung umfasst auch ethische und interreligiöse Fragen.

Interkulturelle Bildung ist ein wichtiger Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung. Sie ist dialogisch, fördert das Verständnis von und den Umgang mit Vielfalt, macht Potentiale sicht- und nutzbar und leistet einen Beitrag zur Konflikt- und Dialogkompetenz innerhalb der Klassen- und Schulgemeinschaft. 

Interkulturelle Bildung fördert eine kritische Reflexion des individuellen wie gruppenspezifischen Sprachgebrauchs.

Interkulturelle Bildung setzt an der Lebenswelt, den Vorerfahrungen und Sichtweisen aller Schülerinnen und Schüler an und nützt biographische, linguistische und weitere geeignete Ansätze, um die Vielfalt von Kulturen und Lebensentwürfen zu bearbeiten.

Interkulturelle Bildung vermittelt ein dynamisches Konzept von Identität(en) und hinterfragt Stereotypisierungen und Zuschreibungen. Sie fördert Respekt und leistet einen Beitrag gegen Rassismus.

Interkulturelle Bildung fördert die Auseinandersetzung mit und Teilhabe an aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung des gesellschaftlichen Ganzen und zur Absicherung von Demokratie und Menschenrechten.

Interkulturelle Kompetenzen

Interkulturelle Bildung befähigt die Lernenden, 

  • vielfältige Lebensentwürfe und Biographien als gesellschaftliche und schulische Normalität wahrzunehmen,
  • mit unterschiedlichen Lebensentwürfen respektvoll umzugehen,
  • zu erkennen, dass die eigene Biographie das Erleben, Denken und Handeln prägt,
  • die eigene (Lebens-)Geschichte zu analysieren und sowohl ihre Entstehung als auch ihre Veränderbarkeit zu erkennen,
  • sich die Bedingtheit eigener Sicht- und Handlungsweisen bewusst zu machen,
  • soziale, kulturelle, sprachliche und andere Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten wahrzunehmen, zu analysieren und ihre Bedeutung zu erkennen,
  • wechselnden Zugehörigkeiten und mehrfachen Identitäten in der eigenen und in anderen Biographien nachzuspüren,
  • Empathie und Ambiguitätstoleranz zu entwickeln,
  • eine kritische und wertschätzende Grundhaltung einzunehmen – als Grundlage für Zivilcourage und eine konstruktive Konfliktkultur ohne kulturelle Zuschreibungen,
  • einen gelassenen Umgang mit Heterogenität zu entwickeln, der es ermöglicht, Stereotype, (Fremd-)Zuschreibungen, Klischees zu identifizieren und darauf zu reagieren,
  • ausgrenzende, rassistische, sexistische Aussagen und Handlungsweisen zu erkennen, zu hinterfragen und dagegen aufzutreten,
  • gesellschaftliche Entwicklungen in der migrationsgeprägten und individualisierten Gesellschaft aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, Meinungen zu bilden und Standpunkte zu vertreten,
  • zu erkennen, wie mit kulturellen Zuschreibungen Macht ausgeübt und Herrschaft legitimiert wird,
  • die interkulturellen Kompetenzen in allen Fachgegenständen sowie im schulischen und außerschulischen Alltag anzuwenden.

Lehrende, Schulaufsicht und Schulverwaltung sind aufgefordert, eine wirkungsvolle Umsetzung Interkultureller Bildung zu garantieren – durch Anwendung in der Praxis, durch die Verbreitung des Grundsatzerlasses sowie durch geeignete Begleitmaßnahmen.

Wien, 15. November 2017

Die Bundesministerin:
Dr.in Sonja Hammerschmid

1  „Sie [die Schülerinnen und Schüler] sollen zu selbständigem Urteil, sozialem Verständnis und sportlich aktiver Lebensweise geführt, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sein sowie befähigt werden, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken.“ Gesamte Rechtsvorschrift für Schulorganisationsgesetz, Fassung vom 08.08.2017 (https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009265)
 Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (http://www.un.org/depts/german/gv-70/a70-l1.pdf)
3 Sustainable Development Goals (https://sustainabledevelopment.un.org/sdgs)
4 UNESCO Guidelines on Intercultural Education (http://unesdoc.unesco.org/images/0014/001478/147878e.pdf)
5 http://unesdoc.unesco.org/images/0021/002197/219768e.pdf
6 Erklärung zur Förderung von Politischer Bildung und der gemeinsamen Werte von Freiheit,  Toleranz und Nichtdiskriminierung (http://ec.europa.eu/dgs/education_culture/repository/education/news/2015/documents/citizenship-education-declaration_de.pdf)
7  Europarats-Charta zur Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung. Empfehlung CM/Rec(2010)7 (https://rm.coe.int/1680489411)

Zugeordnete/s Sachgebiet/e

Pädagogische Angelegenheiten